Studie macht Licht im Dunkelfeld: Jeder zweite Mann ist im Laufe des Lebens von partnerschaftlicher Gewalt betroffen
9. Februar 2024
Laut Kriminologischem Forschungsinstitut Niedersachsen (KfN) ist eine klare Unterscheidung zwischen Täter- und Opfersein in vielen Fällen nicht sinnvoll. Ein hoher Overlap wurde festgestellt, also die Schnittmenge, in der Betroffene zu Tätern werden oder umgekehrt.
Das KfN stellte am 8. Februar die repräsentative quantitative Studie mit dem Titel „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften – von der Scham zur Hilfe. Eine empirische Untersuchung zur Situation in Deutschland“ vor. Die dafür gewonnene Stichprobe umfasste 12.000 Männer im Alter von 18 bis 69 Jahren, gefragt wurde nach Opfererfahrungen und Täterschaft. Den Angaben der Forschenden zufolge nahmen 10% (1209) auswertbar teil. Zusätzlich wurden 16 Betroffene in qualitativen Interviews vertiefend befragt. Die Studie verfolgte somit qualitative und quantitative Ansätze und führte deren Ergebnisse zusammen.
„Allein, dass nach 2004 wieder eine repräsentative Studie mit und zu Männern möglich wurde, ist ein Erfolg“, sagt Torsten Siegemund, Fachreferent bei der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM). „Jetzt haben wir wissenschaftliche Fakten, sozusagen schwarz auf weiß, was uns oft an Argumenten fehlte. Mit der Studie wird ein detaillierter Blick auf das Dunkelfeld gewaltbetroffener Männer möglich. Die wesentlich höhere Gewaltbetroffenheit von Frauen steht damit keineswegs infrage, die erkennen wir an und unterstützen Forderungen nach dem Ausbau der Hilfelandschaft. Doch Männer gehören eben auch gesehen, ein eigenes Hilfesystem für sie ist zusätzlich nötig und muss dringend ausgebaut werden.“
Gefragt wurde sehr detailliert nach dem Gewalterleben der Männer, also nach Oper- und Täterschaft jeweils in den letzten 12 Monaten und im gesamten Leben. Zusammengefasst als „Partnerschaftsgewalt“ wurden dann fünf Kategorien, die jeweils mit konkreten Tatformen unterlegt waren. Das ergibt folgendes Bild:
54,1 % aller befragten Männer gaben an, jemals in ihrem Leben von Partnerschaftsgewalt betroffen gewesen zu sein. Der Großteil der Männer erlebte Gewalt ein oder zweimal im zurückliegenden Jahr, nur wenigen widerfuhr sie mehrmals pro Woche oder täglich. Mehr als 30% gaben an, von mindestens zwei Gewaltformen betroffen gewesen zu sein. „Dies sind die Männer, für die es Schutzwohnungen geben muss. Und das ist keine zu vernachlässigende Größe“, so Torsten Siegemund. Spannend war auch, dass etwa nur ein Fünftel der Befragten von sich behauptet hatten, Partnerschaftsgewalt erlebt zu haben. Alle weiteren haben ihr Gewalterfahrungen nicht als solche gewertet.
Zugleich gaben 55,2% aller Männer an, selbst Gewalt angewandt zu haben. Das sind nicht zwingend dieselben Personen, denn Beziehungsgewalt ist meist komplex. Es ist schwer zu ermitteln, wer Opfer und wer Täter*in ist. Die Studie hat sich aber auch dem sogenannten Victim-Offender-Overlap zugewandt, also der Schnittmenge, in der Betroffene zu Tätern werden oder umgekehrt. Diese Überlappung trifft für 73 % der Betroffenen zu; sie gaben also an, neben Opfer auch Täter gewesen zu sein. Im Umkehrschluß erleiden 27 % partnerschaftliche Gewalt, ohne sich zur Wehr zu setzen – gut jeder vierte gewalterfahrene Mann.
Von den Betroffenen haben 92,1 % wegen der Gewalt keine Polizeihilfe oder Beratung in Anspruch genommen, teils aus Unwissenheit über Beratungsmöglichkeiten, aber auch aufgrund fehlenden Opfergefühls. Das bedeutet für die Praxis, so Torsten Siegemund: „Es braucht mehr Anlaufstellen und mehr Sensibilisierung, dass Hilfe möglich und vor allem wichtig ist. Es braucht einen Ausbau des Hilfetelefons, von Beratungsmöglichkeiten und der Männerschutzeinrichtungen. Bundesweit gibt es gerade mal 15 Schutzwohnungen, in denen Männer unterkommen können, viel zu wenige.“ Aktuell wüssten auch viele Polizeibeamt*innen und Mitarbeitende des Hilfetelefons nicht genau, wohin sie ortsnah hilfesuchende Männer verweisen sollen. Björn Süfke, der Leiter des Männerhilfetelefons, sprach bei der Vorstellung der Studie von „professioneller Mangelvermittlung“.
Eine Nachfrage aus dem Publikum ergab zudem, dass Männer (so wie auch Frauen), den Schritt der Trennung fürchten. Alle haben Angst vor weiteren Gewaltattacken oder sorgerechtlichen Folgen, wenn Kinder involviert sind.
Das Forschungsprojekt lief über einen Zeitraum von anderthalb Jahren. Es wurde durch die WEISSER RING Stiftung gefördert. Die Teilnehmenden-Stichprobe wurden repräsentativ mit Einwohnermeldeamtsdaten gezogen. Bei der Beantwortung entstand eine leichte Unterrepräsentation von Männern mit niedrigeren Einkommen und Bildung.
Die BFKM und das Netzwerk von Männerberatungsstellen waren bei der Rekrutierung von Interview-Teilnehmenden über eMail-Verteiler und social media beteiligt. Das Projektteam bestand aus dem Projektleiter Dr. Jonas Schemmel, den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Laura-Romina Goede und Philipp Müller sowie den studentischen Hilfskräften Enrica Wegener und Ava Stähler.
Die BFKM teilt die Einschätzung des WEISSEN RING in social media: „Die Ergebnisse liefern einen bedeutenden Beitrag zur wissenschaftlichen Literatur und ermöglichen eine differenzierte Betrachtung von partnerschaftlicher Gewalt gegenüber Männern.“
Die Studie steht online zur Verfügung. Anmerkungen und Fragen zu unserem Text bitte gern an Enrico Damme, Fachreferent Presse- und Öffentlichkeitsarbeit .
* Wie wir gendern.