"Das Geschlechtersystem wird indirekt vom Patriarchat choreographiert." Boris von Heesen im Interview
14. Juni 2022
Anlässlich seines aktuellen Bestsellers „Was Männer kosten – der hohe Preis des Patriarchats“ reden wir mit Boris von Heesen. Der Darmstädter Männerberater und studierte Ökonom spricht über die Männergewaltschutzbewegung in Deutschland und über Männerschutzwohnungen in Hessen, bei deren Finanzierung sich gerade etwas tut.
Das Interview führt Enrico Damme von der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM).
BFKM: Hallo Boris. „Was Männer kosten – der hohe Preis des Patriarchats“, so heißt dein aktuelles Buch. Was hat dich dazu angetrieben, gab es einen Moment, an dem du gesagt hast, das muss jetzt sein?
Boris von Heesen: Einerseits viele, viele Jahre die Auseinandersetzung mit kritischer Männlichkeit, also die eigene Rolle als Mann zu reflektieren. Und dann gab es ein Schlüsselerlebnis vor knapp 20 Jahren. Damals habe ich einen Drogenhilfe-Träger in Frankfurt am Main geleitet und habe an einem Tag im Konsumraum ausgeholfen, um die Arbeit vor Ort besser kennenzulernen. Dort können Konsumenten in sicherem Setting ihre Drogen konsumieren. Ich war total verwundert, dass praktisch nur Männer dort aufgeschlagen sind. Ich fragte mich, wie ist das in anderen Konsumräumen? Ich fand dann heraus, dass 85 % der Menschen, die in Frankfurt Konsumräume nutzen, Männer sind.
BFKM: Wie ging das weiter?
B. v. H.: So fing das an, dass ich über Jahre amtliche Statistiken gescreent habe. Das reicht über Verkehrsdelikte, Kriminalitätsstatistik, Suchthilfestatistik – da habe ich mir ein kleines Archiv aufgebaut. Und irgendwann kam der Moment, dass ich das mal an die Öffentlichkeit bringen wollte, dieses Ungleichgewicht der Geschlechter.
BFKM: Und wie kam es zum Titel „ … Der hohe Preis des Patriarchats“?
B. v. H.: Grundlegend sind es am Ende zwar überwiegend die Männer, die gesellschaftlich schädliche Handlungen vollziehen. Aber dennoch ist es das Patriarchat, ein Geschlechtersystem, das Jungs und Mädchen bestimmte Rollen zuweist. Und Jungs müssen halt mit dem Set umgehen, das sie mitbekommen. Viele sind einfach damit überfordert. Natürlich lege ich mit dem Titel des Buches dann den Finger in die Wunde.
BFKM: Was sind denn die größten Brocken, in welchen Bereichen leben Männer Stereotype und toxische Rollenbilder mit den höchsten Kosten?
B. v. H.: Definitiv im Bereich der Sucht. Es gibt zwar ein paar Ausnahmen, zum Beispiel sind Medikamentenabhängigkeit oder ernährungsbezogene Süchte von Frauen angeführt. Aber alle anderen werden von Männern dominiert. Und was dabei spannend ist: je heftiger die Sucht, desto größer ist der Anteil der Männer. Also beim Rauchen sind wir noch bei 58 %, beim Alkohol circa bei 73 %, bei illegalen Drogen 80 %. Und besonders hoch ist der Männeranteil bei Glücksspielsucht, da dominieren sie mit knapp 88 %. Für diese Bereiche laufen sehr hohe Kosten auf, um die 40 Milliarden Euro pro Jahr mit all den direkten und indirekten Kosten.
BFKM: Neben den finanziellen, was hat der Bereich Sucht für gesellschaftliche Kosten?
B. v. H.: Was bei der Sucht besonders spannend ist: Sie strahlt auch in ganz viele andere Bereiche ab, die ich untersucht habe. Denn, natürlich fließt sie in die Verkehrsdelikte mit rein – Männer unter Alkoholeinfluss begehen oder verursachen fünfmal mehr Unfälle mit Personenschäden als Frauen. Und auch bei häuslicher Gewalt ist häufig Alkohol im Spiel. Bei Diebstählen ist häufig Sucht im Spiel, also das Thema Beschaffungskriminalität. Die Sucht strahlt in ganz viele Bereiche ab. Und sie ist ja auch ein großes Thema, was Männlichkeit betrifft.
BFKM: Du sagst, je stärker die Sucht, desto größer der Anteil der Männer, die ihr zuneigen oder verfallen – gibt es da einen Mechanismus?
B. v. H.: Natürlich fällt vieles auf patriarchale gesellschaftliche Prägungen zurück, die Jungs bestimmte Rollen zuschreibt. Immer wieder wird ihnen gesagt, sie müssten stark sein, durchhalten, sich durchsetzen, sie dürften nicht schwach sein. Wir kennen alle auch Schimpfwörter wie Weichei, Memme, Waschlappen, Mädchen – die sind alle als weiblich konnotiert. Und wenn nun junge Männer keinen Reflexionsraum haben, keine Identifikationsfigur, die das einordnet oder andere Perspektiven abbildet, besteht die Gefahr, dass sie dadurch keinen Zugang zu ihrer Gefühlswelt bekommen und sich selbst nicht spüren, und natürlich auch andere nicht.
BFKM: Bei unserer Arbeit in der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz geht’s um Männerschutzwohnungen und Beratungskonzepte, wir arbeiten im Bereich Häusliche Gewalt. Polizeilich stellen in diesem Bereich circa 80 % der Anzeigen betroffene Frauen. Das bedeutet, Männer sind deutlich häufiger Täter. Welche Folgekosten entstehen, wenn Männer Gewalt ausüben?
B. v. H.: Was ich wichtig finde vorab zu sagen, damit es auch in den richtigen Kontext bleibt: Wir müssen den Gewaltschutz für Frauen stärken. Aber wir dürfen Männer nicht übersehen. Und ich bin gegen Grabenkämpfe, gerade wenn´s um die Mittel dafür geht. Nur eine gemeinschaftliche, geschlechterübergreifende Gewaltschutzbewegung wird Ende erfolgreich sein. Es gibt ja auch Beispiele in verschiedenen Bundesländern, wo das schon ziemlich gut funktioniert, mit eurer Unterstützung. Es gibt diese eine, sehr detaillierte Studie, Sylvia Sacco: Häusliche Gewalt. Kostenstudie für Deutschland – Gewalt gegen Frauen in (ehemaligen) Partnerschaften von 2017. Die Daten darin sind als Standard mittlerweile anerkannt, und der Betrag auf den ich damit als Folgekosten männlicher Gewalt verwende sind 2,75 Milliarden Euro pro Jahr.
BFKM: Sind darin Folgekosten durch Polizeieinsätze oder zusätzliche Betreuungsverhältnisse enthalten?
B. v. H.: Ich habe einiges ausgespart, sonst hätte es Doppelungen gegeben. Zum Beispiel sind Gefängniskosten oder Suchtfolgekosten nicht darin. Die 2,75 Milliarden Euro teilen sich auf in Kosten, die direkt in der Folge der häuslichen Gewalt entstehen, also für Polizeieinsätze, für Justizverfahren, für die Unterhaltung und Betrieb von Frauenhäusern und Beratungsstellen oder im Gesundheitswesen für die Behandlung von Körperverletzungen. Und es gibt indirekte Kosten. Sie setzen sich zusammen aus den Krankschreibungen oder Arbeitslosigkeit infolge häuslicher Gewalt.
Ein ganz wichtiger Kostenpunkt sind die Traumata, die bei Kindern entstehen und die behandelt werden müssen. Das gerät viel zu selten in den Fokus, aber Kinder, die Gewalt mitbekommen, sind traumatisiert, die tragen das dann durch ihr Leben. Wenn man da nichts tut, ist das eine Endlosschleife, die sich immer wiederholt.
BFKM: Gibt´s auch Kosten für die Gewaltfolgen, wenn Männer sie ertragen müssen?
B. v. H.: Normalerweise nehme ich in allen Bereichen im Buch immer die Kosten, die Männer verursachen und die Kosten, die Frauen verursachen. Kosten, die Frauen verursachen, ziehe ich von denen der Männer ab, um die von Männern zu verantwortenden Zusatzkosten zu berechnen. Folgekosten für häusliche Gewalt gegen Männer liegen allerdings in Statistiken nicht vor. Wenn, dann wäre das zum Beispiel anhand der Kosten für Männerschutzwohnungen ermittelbar. Als ich das Buch geschrieben habe, waren es bundesweit grade mal 29 Plätze in Männerschutzwohnungen. Es wäre natürlich spannend hier wissenschaftlich ranzugehen. So, wie Professorin Sacco das gemacht hat mit ihrem Team für den Bereich Frauenschutz müsste man das für den Bereich Männer auch untersuchen.
BFKM: Das Dunkelfeld der Gewaltbetroffenheit käme bei diesem Problem sicher noch dazu.
B. v. H.: Man muss aufpassen, dass man da nicht auch in diese Grabenkämpfe reinrutscht. Es wird ja immer über das Dunkelfeld geredet und ich glaube, dass es auch bei den Frauen groß ist. Auch da gibt es Scham, Angst, wirtschaftliche Nöte. Dass das Dunkelfeld bei Männern ebenfalls sehr ausgeprägt ist und untersucht werden muss, ist klar, weil gerade Männer unter diesem enormen Druck von Geschlechterrollen stehen. Es macht keinen Sinn, zu spekulieren, welches Dunkelfeld größer ist.
BFKM: Du sprichst damit natürlich auch vom Tabu männlicher Gewaltbetroffenheit. Gibt es da Unterschiede?
B. v. H.: Betroffene Männer denken: „Ich müsste eigentlich stärker sein, ich darf nicht geschlagen werden, das darf doch gar nicht sein, oder? Das kann ich auf keinen Fall jemandem erzählen.“ Wenn Männer große Schwierigkeiten haben, sich Hilfe zu holen, dann im schambehafteten Bereich, dass sie von ihren Frauen Gewalt erfahren.
BFKM: Soziologisch betrachtet, wo siehst du Ursachen, dass es für gewaltbetroffene Männer wenig konkrete Zahlen gibt? Steht sich da das Patriarchat auf den eigenen Füßen, verhindern Männer in Führungsbereichen erfolgreich, dass die Gewaltbetroffenheit von Männern enttabuisiert wird?
B. v. H.: Ja, ich würde sagen, das Geschlechtersystem wird indirekt vom Patriarchat aus dem Hintergrund choreographiert. Statistiken, die ich auswerte vom Statistischen Bundesamt, über das Bundeskriminalamt bis zum Kraftfahrtbundesamt – viele dieser Ämter werden von Männern geleitet.
BFKM: Ein Beispiel?
B. v. H.: Nehmen wir zum Beispiel den deutschen Verkehrssicherheitsrat. Der wird vom Bund und von den Unfallkassen finanziert und ist für die Erhöhung der Sicherheit auf den Straßen zuständig. Im 42köpfigen Führungsgremium sitzen gerade einmal vier Frauen. Da frage ich mich schon, warum die ganzen Männer nicht aktiv und regelmäßig auf das extreme Verhalten von Männern im Straßenverkehr aufmerksam machen. Das ist dringend notwendig und würde Leben retten.
BFKM: Siehst du noch andere Verantwortliche, dass wenig unternommen wird?
B. v. H.: Auf der anderen Seite gehört eben auch dazu, dass Menschen gerade im sozialen Bereich erst mal zurückhaltend reagieren, wenn es um häusliche Gewalt geht. Nicht in allen Bundesländern ist die Offenheit für das Thema Männergewaltschutz gleich groß. Das hat etwas mit der dort herrschenden Kultur zu tun. Dort, wo zum Beispiel die Arbeit der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz schon bekannt ist, ist eine höhere Bereitschaft da, über häusliche Gewalt gegen Männer zu reden. Aber grundsätzlich ist da oft Zurückhaltung, die erlebe ich auch hier in Hessen. Wir bemühen uns gerade sehr, die richtigen Ansprechpartner für Männergewaltschutz zu finden. Wir finden sie auch, wenn unsere Haltung dabei ist: Wir wollen nichts relativieren, was den Frauengewaltschutz angeht, im Gegenteil, Frauen brauchen noch mehr Unterstützung. Aber wir dürfen die Männer nicht zurücklassen. Niemand kann am Ende gegen das Argument angehen, dass man die einen stärken will, aber die anderen nicht zurücklassen darf.
BFKM: Wie kann so ein Aushandeln funktionieren?
B. v. H.: Männer müssen sich da ein Stück weit an die eigene Nase fassen, weil sie sich einfach nicht gut organisieren und jeder seinen eigenen Kampf kämpft. Und die Frauenseite ist eher zurückhaltend, weil auch Ängste da sind, dass eine Männergewaltschutzbewegung ihnen etwas wegnehmen könnte. Manchmal scheint ein Schwarz-Weiß-Denken auch leichter, also: das ist der Täter, der ist männlich und das ist das Opfer, das ist weiblich. Beide Seiten tragen so dazu bei, dass die Diskussion feststeckt und am Ende ist das Patriarchat, das davon profitiert.
BFKM: In der Männerbewegung ist es ja auch oft so, dass wir Anfeindungen erfahren, wenn wir uns feministisch orientiert positionieren. Da heißt es dann, jetzt kommt schon wieder so ein Weichei, der nichts für uns erreichen kann. Aus meiner Sicht sind das die am meisten Frustrierten, die am meisten von sich selbst abgekoppelten Typen. Die schlagen rhetorisch auf die ein, die eigentlich für sie argumentieren.
B. v. H.: Ungefähr so wie du es beschreibst erlebe ich es mit meinem Buch. Ich werde gerade ordentlich destruktiv kritisiert und versuche es aber regelmäßig mit einer paradoxen Intervention. Ich lade die heftigsten Kritiker zu einem persönlichen Gespräch ein. Bisher haben sich dem alle entzogen.
BFKM: Häufig werden diese aggressiven, gekränkten Männer ja als Männerrechtler bezeichnet. Ist das, deiner Meinung nach, der richtige Begriff? Männer, die für ihre Rechte eintreten, sind ja per se erstmal nichts Schlechtes.
B. v. H.: Absolut. Ich bin eher dafür, dafür den Begriff Maskulinisten zu nutzen Und dennoch versuche ich mich zu entspannen bei Begrifflichkeiten. Wie groß deren Bewegung tatsächlich ist, dass weiß niemand. Der Journalist Thomas Gesterkamp beschreibt in einem schönen Text im „Freitag“, wie sich die Männerrechtsbewegung in der digitalen Welt abarbeitet. Sie sei keine Graswurzelbewegung, sondern vielmehr das Bespielen von Kunstrasen. Am Ende sind es viel weniger Männer als man denkt, die da Wind machen und sich hinter Servern in der Türkei verstecken.
BFKM: Wir waren im März in Wien und haben die Kollegen vom Dachverband Männerarbeit Österreich besucht. Es war interessant zu sehen, dass es in Österreich bisher keine Männerschutzwohnungen gibt. Der Ansatz heißt täterorientierte Opferschutzarbeit. Werden Männer damit grundsätzlich als Täter abgestempelt oder sehe ich das falsch?
B. v. H.: Wenn es explizit so genannt wird, sehe ich diese Gefahr in der Tat. Aber das ist ein vielschichtiges Feld. Zunächst einmal denke ich, dass es beides braucht: In einem ersten Schritt den Opferschutz. Dann aber auf dem Fuß die Arbeit mit Tätern, aber natürlich auch mit Täterinnen. Erst dann kann der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden. Und bei der Arbeit mit Tätern und Täterinnen ist in Deutschland insgesamt zu wenig passiert.
BFKM: Mir scheint es ein Tabu zu sein, dass Täter*innen auch weiblich sein können. Darüber wird aktuell am allerwenigsten geredet.
B. v. H.: Es ist auf alle Fälle ein Tabu. Das habe ich tatsächlich in einem von euch organisierten Talk zur Einrichtung von Männerschutzwohnungen gelernt. Wie groß ist denn der Anteil der partnerschaftsinternen, gegenseitigen Gewalt? Wie gehen wir damit um? Häufig ist es dann der Mann der, der dazu verpflichtet wird, eine Beratung in Anspruch zu nehmen oder ein Anti-Aggressionstraining zu machen. Dabei handelt es sich nicht selten um ein systemisches Problem, das dann auch systemisch bearbeitet werden muss.
BFKM: Eine Männerschutzwohnung in Darmstadt, wie geht´s damit voran?
B. v. H.: Ich habe mich mit Stefan Siegel von der Evangelischen Kirche in Hessen-Waldeck zusammengetan, um ein Pilotprojekt auf die Beine zu stellen. Je eine Männerschutzwohnung für Nordhessen, eine für Südhessen. Wir profitieren dabei sehr von der Unterstützung von Torsten Siegemund von der BFKM, der uns immer wieder mit wertvollen Informationen versorgt. Aktuell sind wir in sehr konstruktiven Gesprächen mit dem für uns zuständigen Ministerium.
BFKM: Wie geht es für euch jetzt weiter?
B. v. H.: Wir werden im November eine Tagung zum Thema Männergewaltschutz in Hessen organisieren. Damit erzeugen wir Sichtbarkeit für das leider immer noch tabubehaftete Thema.
BFKM: Das ist ein sehr optimistischer Ausblick. Vielen Dank für das Gespräch.
Boris von Heesen liest auf unserer Jahresfachtagung „Jenseits der Gewalt“ am Abend des 8. September aus dem Buch und steht für Fragen zur Verfügung. „Was Männer kosten – Der hohe Preis des Patriarchats“ gibt´s im gut sortierten Buchhandel. Es ist im Heyne-Verlag erschienen, ISBN 3453606248, hat 304 Seiten und kostet 18 Euro.
* Wir respektieren geschlechtliche und sexuelle Vielfalt.