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Gewaltig - Betroffen? Es braucht strukturelle Verbesserungen.

8. Oktober 2021

Gewaltig – Betroffen. Männer* im Fokus der Gewaltforschung. Fachtagung mit vielen Impulsen und guter Resonanz

Während des Grußwortes von Anke Gladosch, Referatsleiterin Jungen- und Männerpolitik des BMFSFJ

Am 29. und 30. September 2021 fand die Jahrestagung der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM) im Philippus-Inklusionshotel Leipzig statt. Sie war mit sechzig Teilnehmenden aus dem ganzen Bundesgebiet ausgebucht und fand ein vielfältiges Echo, die Möglichkeiten zum persönlichen Erfahrungsaustausch wurden betont. „Viel Input, guter Austausch, neue Perspektiven“, „Ich überlege weitere Männerangebote zu entwickeln“ oder „Es braucht strukturelle Verbesserungen“ sind nur einige der Kommentare, die an das Tagungsteam heran getragen wurden.

Schon das Professionenprofil der Angereisten deutet auf eine breite fachliche Differenzierung rund um das Arbeitsfeld Männergewaltschutz.

Professionenprofil – je größer ein Begriff dargestellt ist, desto mehr Teilnehmende gaben ihn als ihre Profession an.

Impulsvortrag 1: Zur Geschichte der Gewaltforschung

Nach dem Grußwort der Leiterin des Referates 415 des fördernden Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Anke Gladosch, eröffnete ein Impulsreferat die fachwissenschaftliche Befassung. Gehalten wurde es von Frau Prof.in Dr.in Teresa Koloma Beck von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Die Forscherin betrachtete das Feld der soziologischen Gewaltforschung im Zeitverlauf. Früher sei es einem durch das Leiden der Betroffenen verzerrten Blick unterworfen gewesen. Die Forschung hätte zum Beispiel das Gewaltmonopol staatlicher Strukturen in keiner Weise hinterfragt.

Prof.in Dr.in Koloma Beck von der Helmuth-Schmidt Universität Hamburg
Prof.in Dr.in Koloma Beck von der Helmuth-Schmidt Universität Hamburg

Aktuell dagegen setze sich die Gewaltforschung leitend mit der Frage auseinander, wie Gewalt beitrage, soziale Ordnung sowohl im Privaten als auch auf staatlichen Ebenen herzustellen. Dabei geht Koloma Beck von deutungsoffenen Einschreibungen von Gewalt in soziale Ordnungen aus. So schrieben etwa Vergewaltigungsopfer in von Krieg betroffenen Konfliktgebieten die Taten nicht selten dem Bedürfnis nach Druckabbau der Kämpfenden zu. Betroffene Frauen nähmen dann kaum Opferperspektiven ein. Den Feldstudien der Forscherin zufolge versuchten die Opfer so, das ihnen zugefügte Leid für sich selbst erträglich zu machen, es zu verarbeiten.

Individuen sind zudem verletzungsoffen und verletzungsmächtig zugleich. Deshalb entscheide der Kontext, ob und wie Gewalt als solche erkannt und eingeordnet werde. Gewalt kann daraus folgend in einem Dreieck aus Antun, Erleiden und Beobachten im Prozess der Herstellung sozialer Ordnungen beschrieben werden. Die Interpretation von Situationen als Gewalt erfolgt also immer im Kontext des sozialen Geschehens, die Ableitung eines Opferstatus ist nicht zwingend.

Die Forscherin ging abschließend auf Muster zum Umgang mit Gewalt ein. Solche Muster können für die versammelten Gewaltschützenden wichtige Ansatzpunkte für die Arbeit mit Betroffenen und Täter*innen liefern. Gewaltbeteiligte inszenierten sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen befürchtetem Legitimtätsverlust und erhofftem Aufmerksamkeitsgewinn. Opfer* inszenieren sich als solche, um die Gewalt zu verarbeiten und zukünftiger Gewalt vorzubeugen. Täter*innen inszenierten sich zum Beispiel als durch ihre Gewalt die Ordnung aufrecht erhaltend. So könnten sie Gewalthandeln verschleiern oder Legitimität in ihren Gruppenbezügen gewinnen. Gerade das aufklärerische Ideal der Gewaltlosigkeit mache dabei

Tagungsort: Philippus-Inklusionshotel Leipzig

Opferschaft zu einem Machtinstrument, mit dem zum Beispiel staatliches Handeln erzwungen wird.

Männer* als Gewaltopfer verschwinden aktuell diskursbedingt im Feld der Unsichtbarkeit. Dies wird solange geschehen, wie weibliche Opferschaft in den öffentlichen Darstellungen den Diskurs stark überwiegt. Institutionen sind wegen der verzerrten medialen Darstellungen der Geschlechteranteile aktuell schlecht darauf eingestellt, Gewaltsituationen gegen Männer* zu erkennen und anzuerkennen.

Es gilt also, stereotype Männlichkeitsbilder aufzubrechen. So kann das Ungleichgewicht der Geschlechter in der wahrgenommenen Gewaltbetroffenheit wirksam aufgebrochen werden.

Fachimpuls Prof.in Koloma-Beck als pdf

Impulsvortrag 2: Daten, Zahlen, Fakten des Bundeskriminalamtes

Die Referentinnen des Bundeskriminalamtes (BKA), Nathalie Leitgöb-Guzy und Angela Nienierza gingen im zweiten Impulsvortrag zunächst auf fallpraktische Zahlen aus den Datenerhebungen des BKA ein. Nathalie Leitgöb-Guzy fokussierte auf Anteile von Männern in diesen Datenerhebungen. Spannend war dabei, Einblicke in bisher unveröffentlichte Daten zu erhalten und auch, wie diese BKA-Daten grundsätzlich zustandekommen. Die jährlich veröffentlichten Berichte des BKA sind für die meisten Praktiker*innen im Moment die einzigen anerkannten Statistiken, deren Zahlen als Argumente zur Begründung von Massnahmen des Gewaltschutzes herangezogen werden.

Die Referentinnen des Bundeskriminalamtes, Angela Leitgöb-Guzy und Nathalie Nienierza
Die Referentinnen des Bundeskriminalamtes,
Nathalie Leitgöb-Guzy (li.) und Angela Nienierza

Im zweiten Teil des Vortrages ordnete Angela Nienierza die Daten und deren Gewinnung kriminologisch-soziologisch ein.

Schließlich wurde das Vorgehen betreffend der lange schmerzlich vermissten Aufklärung über die Situation im Dunkelfeld erläutert, d.h. der nicht angezeigten, aber tatsächlich stattfindenden Gewalt in der Öffentlichkeit, in Partner*innenschaften und Familien. Dazu arbeiten aktuell das BMFSFJ gemeinsam mit dem Bundesministerium des Inneren (BMI) an einer bundesweit repräsentativen Umfrage, dem Gewaltsurvey, an deren Umsetzung das BKA federführend mitwirkt. Aktuell sind die Akteur*innen in der Phase der Ausschreibung der Umfrage auf europäischer Ebene. Ziele und Zeitverlauf konnten gut vermittelt werden und eine lebhafte Diskussion enspann sich.

Fachimpuls 3: Begrifflichkeiten im Kontext Häuslicher Gewalt

Der folgende Input des Soziologen Jörg Gakenholz von der Bundesfach- und Koordinierungstelle Männergewaltschutz wendete sich Begrifflichkeiten im Kontext Häuslicher Gewalt zu. Die angebotene Möglichkeit zur Diskussion einzelner Punkte wurde lebhaft angenommen.

Input Begriffe-der-PKS_Joerg Gakenholz

Tag 2 – Workshops

Workshop-Vorstellung. Von links: Torsten Siegemund (Moderator), Hagen Botteck (Projekt A4 Männerberatung Thüringen), Wolfram Palme (Triade GbR Leipzig), Constanze Kühne (Projekt A4 Männerberatung Thüringen), Johannes Reuter (Männernetzwerk Dresden e.V.), Peter Bienwald (Landesfachstelle Jungenarbeit Sachsen)

Am folgenden Tag trafen sich die Teilnehmenden in vier Workshops. Da diese jeweils zweimal stattfanden, konnte sich jede*r Teilnehmer*in in zwei verschiedenen Interessensfeldern weiterbilden. Die Protokolle der Workshops werden den Teilnehmenden separat zugesandt. Folgend zwei der Präsentationen zum Download.

WS Beratung männlicher Betroffener HGW- A4-Thüringen

WS-Täterinnenarbeit-Triade-Leipzig

Resümierend kann die diesjährige Fachtagung als sehr erfolgreich beschrieben werden. Neben vielen inhaltlichen Neuigkeiten kame auch der individuelle Austausch unter den Teilnehmer*innen nicht zu kurz. Einigkeit bestand, dass es dringend einen Ausbau an Beratungsmöglichkeiten und Schutzräumen für Männer* braucht. Der persönliche Austausch war besonders wertvoll und ist könnte zukünftig durch Online-Veranstaltungen nur bedingt ersetzt werden.

Vielen Dank allen Teilnehmer*innen für das engagierte Arbeiten und den konstuktiven Austausch sowie ein großes Dankeschön an die Referierenden.

* Wir respektieren sexuelle und geschlechtliche Vielfalt.

 

 

 


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